Rede des Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt, Siegfried Borgwardt, zur Regierungserklärung des Ministerpräsidenten „30 Jahre Deutsche Einheit – 30 Jahre Sachsen-Anhalt“
Sehr geehrte Präsidentin,
sehr geehrte Damen und Herren,
wer erinnert sich nicht an die historische Pressekonferenz am 9. November 1989, in der vom SED-Funktionär Günter Schabowski die neue Reiseregelung seines Wissens „sofort, unverzüglich“ in Kraft gesetzt wurde. Mit diesem Satz brachte er die Mauer zum Fallen. Er sorgte für die Bilder, die in Erinnerung geblieben sind. Dieser Tag hat deutlich mehr Symbolkraft als der 3. Oktober 1990. Verträge, Gesetze und Verordnungen traten in Kraft. Die Zeit beschreibt diesen Tag in der Ausgabe vom 17. September 2020 als eine tiefe Zäsur, als eine Antwort auf das Jahrhundertproblem „die deutsche Frage“.
Deutschland hatte somit, wie es Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 3. Oktober 1990 in seiner Rede beim Festakt zur Wiedervereinigung in der Berliner Philharmonie formulierte, „zum ersten Mal in der Geschichte seinen dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien“ gefunden.
Rückblickend werden viele Ostdeutsche sowohl positive als auch negative Erinnerungen an die DDR haben. Es gab die Straßenbahnfahrt für 15 Pfennige. Es gab eine ungeheure Gemeinsamkeit und Hilfsbereitschaft unter den Menschen. Dem gegenüber standen eine permanente Mangelwirtschaft, der Kampf um eine brauchbare Wohnung, das Warten auf ein Auto sowie ein bankrotter Staat. Ungleich schwerer wog jedoch die staatliche Bespitzelung in großem Ausmaß und ein unmenschliches Grenzregime.
Diesen Zwiespalt fasst die Ausstellung „Voll der Osten. Leben in der DDR“ mit Bildern des renommierten Fotografen Harald Hauswald, die auf dem Flur unserer Geschäftsstelle zu besichtigen sind, mit einigen Kernpunkten zusammen: Rebellion, Sehnsucht, Gemeinschaft, Widerspruch, Flucht.
Letztendlich haben die negativen Punkte überwogen und die DDR ist vor über 30 Jahren zu Recht am Urteil ihrer Bevölkerung gescheitert. Es waren die Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutschlands, die die deutsche Einheit und die Freiheit erkämpft haben. Eine Freiheit, die es der jüngeren Generation heute ermöglicht, eine ideologiefreie Schuldbildung zu durchlaufen und zu studieren, was immer sie möchte. Ein Leben in Freiheit, das ein politisches Leben ohne Ausgrenzung oder gar Verfolgung möglich macht.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier hat es in der Bundestagsdebatte vor zwei Wochen auf den Punkt gebracht, als er sagte: „Es war die Hoffnung auf Einheit und Freiheit und Demokratie, aber auch der Wunsch nach lebenswerter Umwelt, nach sozialer Sicherheit, nach guter Infrastruktur und nach wirtschaftlichem Wohlstand.“
Es bedurfte eines hohen Maßes an diplomatischem Geschick aller Beteiligten, um die Vorbehalte gegenüber einem vereinigten Deutschland zu überwinden. Dass dies gelang, war nicht zuletzt der Umsicht des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl und der Hilfe Michail Gorbatschows, seit 1985 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika zu verdanken.
Jene Prinzipien von Offenheit und Umgestaltung waren die Antwort auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme sowie auf die Unzufriedenheit der Menschen. Andere kommunistisch geprägte Staaten folgten dem Vorbild der Sowjetunion, sehr zum Ärger des SED-Regimes in der DDR. Generalsekretär Erich Honecker lehnte diese Politik ab – aus Angst vor Machtverlust.
Trotz Massenflucht und Montagsdemonstrationen feierte das SED-Regime am 7. Oktober 1989 unbeirrt den 40. Jahrestag der DDR-Gründung. Ehrengast im Ost-Berliner Palast der Republik war Michail Gorbatschow. Ich kann mich an die versteinerten Gesichter erinnern, als er sagte: „Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.“
Heute, 30 Jahre nach der deutschen Einheit, gibt es durchaus regionale Unterschiede bei der Altersstruktur, der Wirtschaftsleistung oder dem Einkommen. Diese lassen sich aber nicht mehr unbedingt nach Ost und West unterscheiden. Ähnlich formuliert es auch Norbert Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden in einem Welt-Artikel vom 23. September 2020. Es gebe derzeit boomende Regionen im Osten, denen schwache Regionen im Westen gegenüberstehen.
Als Beispiel nennt er Gelsenkirchen, das seit Anfang der Neunzigerjahre mehr als elf Prozent an Bevölkerung eingebüßt hat. Und im Osten gibt es Regionen, die wachsen. Neben der Gegend um Jena zählen dazu Leipzig, Dresden, Weimar, der Speckgürtel um Berlin sowie auch die Städte Magdeburg und Halle.
Nichtsdestotrotz beklagen 64 Prozent der Bevölkerung weiterhin, dass wir keine gleichwertigen Lebensverhältnisse haben. Die ostdeutsche Wirtschaft liegt bezogen auf die Leistungskraft bei 79 Prozent der westdeutschen. Mitteldeutschland hat nach einer Statistik des Informationsdienstes des Instituts der deutschen Wirtschaft eine höhere Arbeitslosenquote, eine geringe Produktivität, ein niedrigeres Haushaltsnettoeinkommen und deutlich weniger Personal im Bereich Forschung und Entwicklung als Westdeutschland.
Beim Thema Rente hat sich die Bundespolitik nun auf das Jahr 2025 für die Angleichung festgelegt – 35 Jahre nach der Wiedervereinigung. Diese Punkte wirken sich eben auch auf die Stimmung im Land aus. Auch deshalb hat das ländliche Sachsen-Anhalt seit 1990 über 650.000 Menschen verloren.
In der aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung geben 59 Prozent der Ost-Bürger an, sich noch heute als Menschen zweiter Klasse zu fühlen. Der Zusammenhalt wird im Westen zu ca. 40 und im Osten zu ca. 50 Prozent als schlecht bzw. sehr schlecht eingeschätzt. Deshalb ist es fast logisch das heute, 30 Jahre nach der Einheit, noch ein echtes Wir-Gefühl fehlt. Darum muss es Aufgabe der Politik sein, einen Austausch zu organisieren und entsprechende Foren zu schaffen.
Es ist richtig, dass es in den neuen Ländern weniger Zentralen großer Konzerne gibt. Es ist richtig, dass es in den neuen Ländern teilweise weniger gut bezahlte Arbeitsplätze gibt.
Die Ansiedlung von Tesla in Brandenburg, die Batteriefertigung von CATL in Thüringen, die Niederlassung von Bundesbehörden in Leipzig, der Neubau einer Bioraffinerie in Leuna durch den finnischen Konzern UPM, die Batteriefabrik von Farasis in Bitterfeld-Wolfen, der Neubau eines Karosseriewerks von Porsche/Schule in Halle sind aber Beispiele dafür, dass der Osten aufholt.
Die Einheit Deutschlands war auch die Geburtsstunde unseres Bundeslandes Sachsen-Anhalt. Ein Bundesland, das nicht historisch gewachsen, sondern 1990 an einem Schreibtisch zusammengepuzzelt wurde.
40 Jahre Sozialismus haben auch in Sachsen-Anhalt ihre Spuren hinterlassen: in den Innenstädten, an den Häusern, der Infrastruktur und unserer Umwelt. Die wirtschaftliche Anfangszeit war eine schwierige. Ursächlich dafür waren natürlich die zahlreichen Betriebsschließungen und Entlassungen vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Die Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt für Sachsen-Anhalt, insbesondere für die Altmark und für die Region Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg, starke Entwicklungsdefizite. Dass der ländliche Raum besonderer Förderung bedarf, ist für die CDU-Fraktion keine neue Erkenntnis. Die Studie führt den dringenden Handlungsbedarf vor Augen und stärkt unsere Forderungen nach größerer Unterstützung für strukturschwache Regionen, durch den Bund und das Land. Hier sind wir auf dem Weg, aber noch längst nicht am Ziel.
Bereits Anfang des Jahres haben wir in einem Positionspapier zum Strukturwandel auf notwendige Maßnahmen zur Unterstützung strukturschwacher Regionen hingewiesen. Infrastruktur ausbauen, zukunftsgerichtete Arbeitsplätze schaffen oder die Digitalisierung vorantreiben sind zwingende Bestandteile.
Mittlerweile haben wir die schlechte Ausgangsbasis hinter uns gelassen. Wir verfügen heute über eine moderne, mittelständisch geprägte Wirtschaft und eine gut ausgebaute Infrastruktur. Der Abwanderungstrend ist gestoppt. Derzeit ziehen sogar mehr Menschen nach Sachsen-Anhalt als umgekehrt. Das verdeutlichen auch die Zahlen der Bürgerumfrage der CDU-Fraktion vom August dieses Jahres.
85 Prozent der Menschen leben gern in unserem Bundesland – im Vergleich zu 2010 ist das ein Anstieg um 10 Prozent. Zudem bewerten über 70 Prozent die Entwicklung Sachsen-Anhalts als mindestens gut. Das ist ein Verdienst der Regierungsfraktionen, insbesondere der CDU. Diese Entwicklung gilt es voranzutreiben, vor allem vor dem Hintergrund, dass mit dem Kohleausstieg die nächste Herausforderung bereits ansteht.
Der Euphorie von damals standen die Anstrengungen, Herausforderungen und Zumutungen des Zusammenwachsens gegenüber. So groß die Brüche auch waren, so stolz können wir doch nach 30 Jahren auf das Erreichte sein.
Wir dürfen das Gewesene niemals vergessen. Dennoch sollten wir den Blick nach vorne werfen. Wir leben in Frieden und Freiheit, in einer gut funktionierenden Demokratie. Dies ist angesichts der deutschen Geschichte eine herausragende Errungenschaft. Es ist aber auch Verpflichtung zugleich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und bleiben Sie gesund!